Ausschlagung der Erbschaft - raffinierter Schachzug oder Eigentor?
von Michael Sigerist,Das Kind, das von einem Elternteil eine grössere unentgeltliche Zuwendung erhalten hat, könnte bei dessen Ableben geneigt sein, die Erbschaft auszuschlagen, um dadurch diesen Vermögensempfang gegenüber seinen Geschwistern nicht ausgleichen zu müssen. Ob das ein raffinierter Schachzug ist oder ob sich diese Idee eher als Eigentor entpuppt, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Das Kind, das von einem Elternteil eine grössere unentgeltliche Zuwendung erhalten hat, könnte bei dessen Ableben geneigt sein, die Erbschaft auszuschlagen, um dadurch diesen Vermögensempfang gegenüber seinen Geschwistern nicht ausgleichen zu müssen. Ob das ein raffinierter Schachzug ist oder ob sich diese Idee eher als Eigentor entpuppt, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
1) Lebzeitige Zuwendungen
Es stellt einen oft anzutreffenden Lebenssachverhalt dar, dass Eltern ihren Kindern meist zu bestimmten Ereignissen lebzeitige Zuwendungen ausrichten. Um beispielsweise die Tochter bei der Realisierung ihres Bauvorhabens zu unterstützen, schenkt ihr die Mutter einen Geldbetrag oder der sich aus dem Berufsleben zurückziehende Vater überträgt dem Sohn das Familienunternehmen.
2) Gleichbehandlung der Nachkommen
Derartige Liberalitäten sind erbrechtlich so lange unbedenklich, wie alle und nicht nur einzelne Kinder bedacht werden und die Zuwendungen in etwa wertgleich sind. Sind dagegen nicht alle Kinder in gleicher Weise in den Genuss solcher Zuwendungen gekommen, schreitet das Erbrecht mit ausgleichenden Massnahmen ein. Das Erbrecht geht nämlich davon aus, der Erblasser wolle seine Kinder gleich behandeln. Im Falle lebzeitiger Zuwendungen des Erblassers an einzelne von ihnen, sieht ZGB 626 II zur Realisierung dieser supponierten Gleichbehandlungsabsicht daher die Ausgleichung derartiger Hingaben vor.
3) Hinzurechnung als Hilfsmittel
Die erbrechtliche Ausgleichung basiert darauf, dass erbrechtlich relevante lebzeitige Zuwendungen zum reinen Nachlass hinzugefügt bzw. hinzugerechnet werden. Aus dieser Hinzufügung der lebzeitigen Zuwendungen zum effektiv Nachlassvermögen resultiert die Teilungsmasse. Diese wird unter Berücksichtigung des lebzeitig bereits Erhaltenen gleichmässig unter die Kinder verteilt. Die Erblasserin Hanna verstirbt beispielsweise vermögenslos und hinterlässt ihre beiden Kinder Carmen und Martin. Zu Lebzeiten hat sie Carmen CHF 400´000 zugewendet. Durch die Hinzurechnung dieser Zuwendung resultiert die Teilungsmasse von CHF 400´000, an welcher Carmen und Martin hälftige Ansprüche von je CHF 200´000 besitzen. Martin hat gegenüber Carmen daher einen Ausgleichungsanspruch von CHF 200´000.
4) Ausschlagung der Erbschaft
Ein lebzeitig begünstigtes Kind könnte nun geneigt sein, die Erbschaft auszuschlagen, um den gegenüber seinen Geschwistern erlangten lebzeitigen Vorteil nicht mittels der unliebsamen Ausgleichung „teilen“ zu müssen. Ob sich das als Glanzidee oder eher als Eigentor entpuppt, hängt neben den sachverhaltlichen Gegebenheiten auch von den Wirkungen der Ausschlagung ab.
5) Wirkungen der Ausschlagung
Durch die Ausschlagung scheidet der Erbe als Erbe aus. Seine Erbenstellung entfällt und sein Anteil überträgt sich, wie wenn er vorverstorben wäre (ZGB 572 I). Für Erbschaftsschulden haftet er nicht. Nachdem die Ausgleichung die Erbenstellung voraussetzt bzw. nur Erben trifft, entfällt mit der Ausschlagung der Erbschaft damit auch die Ausgleichungspflicht des entsprechenden Erben.
6) Grenze der Ungleichbehandlung
Die Ausschlagung der Erbschaft und die daraus resultierende Entbindung des bedachten Kindes von der Ausgleichungspflicht bewirken dessen Bevorzugung und führen zur Ungleichbehandlung mehrerer Kinder desselben Erblassers. Diese Ungleichbehandlung findet ihre Grenze allerdings am Pflichtteilsschutz der benachteiligten Kinder.
7) Herabsetzbare lebzeitige Verfügungen
Den Pflichtteil schützt das Gesetz dadurch, dass gewisse lebzeitige Zuwendungen an Bedachte bis zur Wahrung des Pflichtteilsanspruchs der Pflichtteilserben auf deren Intervention hin herabgesetzt werden. Die herabzusetzenden Verfügungen sind unter den Ziffern 1 bis 4 von ZGB 527 abschliessend aufgezählt. Dabei werden die relevanten lebzeitigen Zuwendungen – wie bei der Ausgleichung – zum effektiven Nachlassvermögen hinzugerechnet, wodurch die Pflichtteilsberechnungsmasse entsteht. An dieser Pflichtteilsberechnungsmasse ermitteln sich die Pflichtteilsansprüche.
8) Umstrittene Auswirkungen der Ausschlagung auf die Höhe der Pflichtteile
Die Auswirkungen der Ausschlagung eines Kindes auf die Höhe der Pflichtteilansprüche der übrigen Kinder sind in der Lehre umstritten: Nach der einen Auffassung bleiben die Pflichtteile unverändert, nach der anderen Auffassung vergrössern sich die Pflichtteile. Diese Differenzen können massive Auswirkungen für den ausschlagenden Erben haben, was anhand des vorstehenden Beispielssachverhalts gemäss Ziffer 3 augenscheinlich wird.
a) Unveränderte Pflichtteile
Geht man bei der Ausschlagung von einem unveränderten Pflichtteil aus, beträgt der Pflichtteil von Martin weiterhin ⅜ (½ x ¾), d.h. CHF 150´000 (⅜ von CHF 400´000). Carmen hat Martin CHF 150´000 auszurichten und kann CHF 250´000 behalten.
b) Vergrösserte Pflichtteile
Geht man bei der Ausschlagung aufgrund des Wegfalls von Carmen als Erbin dagegen von einem vergrösserten Pflichtteil aus, so beträgt der Pflichtteil von Martin ¾ (1 x ¾), d.h. 300´000 (¾ von CHF 400´000). Carmen hat Martin CHF 300´000 auszurichten und kann lediglich CHF 100´000 behalten.
9) Ohne Ausschlagung
Wie im vorstehenden Beispiel unter Ziffer 3 gezeigt wurde, hat Carmen ohne Ausschlagung Martin CHF 200´000 auszuzahlen und kann CHF 200´000 behalten.
Zusammenfassung
Je nach Lehrmeinung erhält der ausschlagende Erbe mit der Ausschlagung der Erbschaft somit weniger als ohne Ausschlagung. Nachdem die Auffassung der durch die Ausschlagung vergrösserten Pflichtteile zudem von der herrschenden Lehre vertreten wird, ist das Risiko, mit der Massnahme der Ausschlagung ein Eigentor zu schiessen, markant.
11) Fazit
Die Sensibilität der Auswirkungen erbrechtlicher Massnahmen, die Komplexität der Sachverhalte und die Vielfältigkeit der einschlägigen Lehrmeinungen, lassen es als weise Entscheidung erscheinen, rechtzeitig sachkundigen Rat zu konsultieren, bevor sich ein als raffiniert vermeinter taktischer Schachzug in Tat und Wahrheit als jener Zug erweist, welcher die eigene erbrechtliche Position matt setzt.
verfasst am 28.04.2020 von:
LL.M., Rechtsanwalt und Notar
Fachanwalt SAV Erbrecht
Telefon 041 227 50 00