Panta Rhei - oder das Erbrecht verändert sich

von Michael Sigerist,

Die auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückzuführende Formel „panta rhei“ oder „alles fliesst“ hat nicht nur für die heraklitische Lehre, sondern auch für das Schweizerische Erbrecht ihre Richtigkeit. Dieses steht vor einer bedeutenden Revision, welche die grundlegenden Veränderungen der familiären, partnerschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der letzten hundert Jahre auch in den gesetzlichen Bestimmungen abbilden möchte.

In diesem Zusammenhang hat der Bundesrat vor wenigen Tagen Vorschläge zur Änderung des Erbrechts präsentiert. Einige davon sollen kurz dargestellt werden.


Die auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückzuführende Formel „panta rhei“ oder „alles fliesst“ hat nicht nur für die heraklitische Lehre, sondern auch für das Schweizerische Erbrecht ihre Richtigkeit. Dieses steht vor einer bedeutenden Revision, welche die grundlegenden Veränderungen der familiären, partnerschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der letzten hundert Jahre auch in den gesetzlichen Bestimmungen abbilden möchte. In diesem Zusammenhang hat der Bundesrat vor wenigen Tagen Vorschläge zur Änderung des Erbrechts präsentiert. Einige davon sollen kurz dargestellt werden.

1) Senkung der Pflichtteilsquoten

a) Pflichtteil versus Verfügungsfreiheit

Der Erblasser, welcher Pflichtteilserben hinterlässt, kann nur in beschränktem Umfang über sein Vermögen verfügen, da er den Pflichtteilserben eine bestimmte Quote zuzuwenden hat. Zu den Pflichtteilserben zählen die Nachkommen, der überlebende Ehepartner und – beim Fehlen von Nachkommen – die Eltern.

b) Erhöhung der Verfügungsfreiheit

Um die Verfügungsfreiheit des Erblassers zu erhöhen, sollen die Pflichtteilsquoten gesenkt werden und zwar wie folgt:

Die Pflichtteile ermitteln sich aus der Multiplikation von Erbteil und Pflichtteilsquote. Hinterlässt der Erblasser beispielsweise seine Ehefrau und zwei Kinder sowie einen Nachlass von CHF 1‘000‘000, betragen die Erbteile der Ehefrau und der Kinder je ½. Es ergeben sich Pflichtteile für die Ehefrau von ¼ (½ x ½) = CHF 250‘000 und für die Kinder von (½ x ¾) =

CHF 375‘000. Dadurch unterstehen CHF 625‘000 dem Pflichtteilsschutz. Der Erblasser kann somit nur über CHF 375‘000 frei verfügen. Künftig sollen die Pflichtteile der Ehefrau (½ x ¼) = CHF 125‘000 und der Kinder ¼ (½ x ½) = CHF 250‘000 betragen. Pflichtteilsgeschützt sind dadurch nur noch CHF 375‘000 und der Erblasser kann über CHF 625‘000 frei verfügen.

c) Preisgabe der innerfamiliären Fürsorge

Die künftig grössere Verfügungsfreiheit des Erblassers opfert den Gedanken der innerfamiliären Fürsorge zugunsten der Bevorzugung von faktischen Lebenspartnern oder Stiefkindern. Durch die Reduktion der Pflichtteilsquoten werden gleichzeitig auch Unternehmensnachfolgen erleichtert, indem deren Finanzierungsmöglichkeiten aufgrund der geringeren Pflichtteilsauszahlungen vereinfacht werden.

2) Unterhaltsvermächtnis

Faktische Lebenspartner und Stiefkinder sollen noch weiter begünstigt werden, indem sie einen Teil der Erbschaft für ihren Unterhalt verlangen können, und zwar:

a) Erhebliche Leistungen für den Erblasser

Der Lebenspartner, der durch Pflege oder finanzielle Hilfe erhebliche Leistungen im Interesse des Erblassers erbracht hat.

b) Angewiesenheit auf Unterstützung

Stiefkinder oder andere Kinder, welche im Haushalt des Verstorbenen gelebt haben und auf dessen finanzielle Unterstützung angewiesen waren.

3) Eindämmung der Erbschleicherei

Das Risiko der Erbschleicherei soll minimiert werden, welches darin gesehen wird, das Vertrauen einer Person zu missbrauchen, um sich nach deren Tod finanzielle Vorteile zu verschaffen. Um diesen Vertrauensmissbrauch zu reduzieren, soll der Erblasser künftig höchstens ¼ seines Vermögens Personen vererben können, die zu ihm aufgrund einer beruflichen Funktion in einem Vertrauensverhältnis stehen. Zu diesen zählen beispielsweise Ärzte oder Anwälte. Ganz abgesehen davon, dass die Festlegung einer maximal zulässigen Zuwendungsquote die Verfügungsfreiheit des Erblassers einschränkt und diesen hinsichtlich von Vertrauenspersonen bevormundet, stellt ein standardisierter Generalverdacht gegenüber beruflich begründeten Vertrauensverhältnissen, eine undifferenzierte und nicht schutzwürdig Haltung dar.

4) Informationspflichten

Die Verpflichtung, über sämtliche Tatsachen zu informieren, die sich auf die Erbschaft und deren Teilung auswirken, besteht heute für Erben und soll künftig auch Dritte erfassen.

5) Ersparnisse der Vorsorge

Künftig soll im Gesetz ausdrücklich festgehalten werden, dass die Ersparnisse der beruflichen (2. Säule) und privaten Vorsorge (Säule 3a) nicht zur Erbmasse gehören und sich Begünstigte derartige Zuwendungen nicht auf ihren Erbteil anrechnen lassen müssen. Dies entspricht bereits heutiger Rechtsprechung.

6) Lebensversicherungen

Lebensversicherungen werden heute nur im Umfang ihres Rückkaufswerts zum Nachlass gezählt und auf den Erbanteil des Begünstigten angerechnet. Künftig soll die gesamte Lebensversicherungssumme berücksichtigt werden.

7) Nottestament

Bei unmittelbarer Todesgefahr soll künftig ein Nottestament auch mittels Videoaufzeichnung (z.B. Smartphone oder Videogerät) zulässig sein. Zwei Zeugen sind nicht mehr erforderlich.

8) Ehevertragliche Zuweisungen

a) Pflichtteilsschutz

Unter dem ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung kann dem überlebenden Ehegatten mittels Ehevertrag die gesamte Errungenschaft und unter jenem der Gütergemeinschaft das ganze Gesamtgut zugewiesen werden. Bei der Errungenschaftsbeteiligung dürfen dadurch die Pflichtteilsansprüche nur der nicht gemeinsamen Nachkommen, bei der Gütergemeinschaft dagegen jene aller Nachkommen nicht verletzt werden.

b) Verfügung von Todes wegen

Bislang war umstritten, ob es sich bei den ehevertraglichen Zuweisungen um solche unter Lebenden oder von Todes wegen handelt. Die Qualifikation hat Auswirkungen auf die Berechnung der Pflichtteile und auf die Reihenfolge der Herabsetzungen, da zuerst die Verfügungen von Todes wegen und erst danach die Zuwendungen unter Lebenden herabgesetzt werden. Künftig soll gesetzlich geklärt werden, dass ehevertragliche Zuwendungen Verfügungen von Todes wegen sind.

9) Fazit

Die aktuelle Erbrechtsrevision versucht die veränderten familiären Strukturen und Verhältnisse ins Erbrecht einfliessen zu lassen und dort adäquat zu regeln, bestehende Regelungslücken zu schliessen und Rechtssicherheit durch Klärung umstrittener Positionen zu gewähren. Das Erbrecht formuliert nicht abstrakte Ideale, welche zeitlich unentwegt gelten, sondern bildet nur relative Ideale gemessen an aktuellen, sich unentwegt verändernden Lebensverhältnissen ab. Heraklit hat es erkannt: panta rhei!

verfasst am 27.04.2020 von:

lic. iur. Michael Sigerist
LL.M., Rechtsanwalt und Notar
Fachanwalt SAV Erbrecht
Telefon 041 227 50 00